Zwergenbrot
Wie jeder weiß, sind Zwerge klein, stämmig und genügsam. So auch die Zwerge Mirdochegal. Außerdem sind Zwerge fleißig, zuverlässig und unermüdlich in ihrem Streben nach Gold. Nicht so die Zwerge Mirdochegal. Die meiste Zeit schliefen sie, pöbelten Trollfrauen an oder sprengten Briefkästen. Sie waren gewissermaßen die Halbstarken des Zauberwaldes. Anfangs dachten die übrigen Waldbewohner, das ginge vorüber. Damit hatten sie zwar recht, aber nur nach kosmischen Maßstäben. Ja, die Zwerge Mirdochegal waren in der Pubertät - und das schon seit gut 50 Jahren! Und daran sollte sich auch für die nächsten 20 Jahre nichts ändern. Ihrem liederlichen Lebenswandel entsprach auch ihre Eßkultur.
Am einfachsten hatte sich die Ernährung für sie gestaltet, als sie noch im Besitz des magischen Einkaufswagens waren, eines Artefakts aus lang vergessenen Zeiten. Dieser hatte die Eigenschaft, alles zu enthalten, was man sich wünschte. Und so wünschten sich die Zwerge einfach, worauf sie Appetit hatten: fritierte Jungaale, Hornissenchips, Käfermilch, Drachenzungenbraten, kandierte Veilchenblüten oder Frettchenpizza mit doppelt Käse. Dieses Schlaraffenlandleben war jedoch von begrenzter Dauer. Eines Winters kam den Zwergen Mirdochegal der magische Einkaufswagen abhanden, war zwischenzeitlich im Besitz des kleinen Komolzen™ und verschwand schließlich bei Wartungsarbeiten in der Waldwerkstatt spurlos. Auf einmal hatten die Zwerge ein Problem: sie hatten die Sache mit der Nahrungskette irgendwie nicht so richtig mitbekommen und entwickelten einen gewaltigen Appetit, ohne dagegen etwas unternehmen zu können.
Zunächst hatten sie sich von den Pilzen im Büro ernährt - bis sie in einer Notlage entdeckten, daß man diese auch rauchen konnte. Fortan lebten sie von den segenvollen Gaben der „Essen-auf-Beinen-GmbH“, die von einigen findigen Eichhörnchen gegründet worden war. Unglücklicherweise wurde dieses Unternehmen jedoch am Jahresende wegen Winterschlaf und Inventur für unbestimmte Zeit geschlossen. Nun blieb den Zwergen Mirdochegal nichts anderes, als sich auf traditionelle Werte zu besinnen, wenn sie nicht verhungern wollten. Widerwillig schaufelten sie sich den Weg in die Küche frei, um nach alter Zwergenväter Sitte ein Zwergenbrot zu backen. Das Rezept fanden sie im Hammerkasten ihrer Urgroßmutter, gleich neben der Zuckerdose. Die ganze Tiefe der zwergischen Fraktallehre spiegelt sich in einer traditionellen Kochphilosophie aus dem 5. Quarzzeitalter wieder. Danach muß der gesamte Zwergenkosmos auch im Kochtopf wiederzufinden sein. So erforderte das Rezept:
für die Erde: 1 ½ KB* Haferflocken
für das Leben: 1 ¼ KB Milchpulver oder Nesquick (oder eine Mischung daraus)
für die Urmutter im alten Stollen: ¼ KB Zucker
für die Kristalle und das Gestein: etwas Salz
für die überfluteten Stollen: 4 flache EL Wasser
für die unzähligen Bienenstiche, die die Urmutter erlitt, als sie die Große Wabe von der Urbiene gekauft und mit falschem Gold bezahlt hatte: 2 EL Honig
für die schleimigen Algen auf dem Stollenboden: ½ Päckchen Gelatinepulver
In den verstaubten Tontöpfen fanden die Zwerge Mirdochegal nach und nach alle benötigten Zutaten. Anschließend machten sie sich ans Werk. Sie vermischten zuerst Kakaopulver, Haferflocken und Zucker. Dann vermengten sie Honig und Wasser, brachten das Gemisch zum Kochen und lösten die Gelatine darin auf. Das - sehr eklige - Resultat kippten sie zu den trockenen Zutaten und gaben noch tropfenweise Wasser hinzu (zwergische Fraktallehre: zuviel Wasser bringt Stollen zum Einsturz!), bis sie einen knetbaren Teig erhielten. Den kneteten sie dann eine Weile kräftig durch, formten zwei Würste daraus und ließen diese einige Tage in der winterlichen Morgensonne trocknen.
Das Zwergenbrot hielt sich zum Glück den ganzen Winter über. Man konnte es einfach so knabbern, oder auch mit etwas Wasser zu einem Brei kochen. Es schmeckte zwar nicht besonders, war aber sehr nahrhaft und außerdem gut geeignet, stumpfe Messer zu schleifen. Im Frühling, als die „Essen-auf-Beinen GmbH“ schon lange wieder geöffnet hatte, wurden die Zwerge Mirdochegal eines Tages vom kleinen Komolzen™ anläßlich des traditionellen Krokusblütenfestes zum Essen eingeladen: Libellenfilet in Streifen aus Taubenspeck auf einem Bett von frischem Spinat! Da ihnen nichts besseres einfiel, brachten sie ihr restliches Zwergenbrot als Gastgeschenk mit. Der kleine Komolze™ war zwar anfangs skeptisch, lernte aber auf seinen langen Wanderungen und Reisen im Sommer die Qualitäten der zwergischen Spezialität so sehr zu schätzen, daß er fortan immer ein Stück davon als Notreserve in seiner Speisekammer verwahrte.